von Mano Khalil, Filmregisseur, Bern
Die Abstimmung vom 19. Mai über den Abbau der Leistungen in der Sozialhilfe gibt mir viel zu denken. Die Sozialhilfe ist für mich der Ausdruck der staatlichen Solidarität und das letzte Auffangnetz in der Not – dann, wenn die Leistungen der Sozialversicherungen Menschen in bestimmten Situationen nicht vor Verarmung und sozialer Ausgrenzung schützen können. Personen in Scheidungssituation, alleinerziehende Mütter kleiner Kinder, Working Poor, psychisch und physisch beeinträchtigte Menschen sowie Personen mit wenig beruflichen Qualifikationen sind nur einige Beispiele von Menschen in solchen speziellen Situationen, die unter Umständen jede und jeden von uns treffen können.
Befindet man sich in der unglücklichen Lage, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, denke ich, dass man sein Möglichstes tut, um diese Situation zu verändern. Meiner Erfahrung nach sind wir Menschen kreative Wesen. Sobald unsere physischen Bedürfnisse gedeckt sind und wir uns sicher und geschützt fühlen, wollen wir uns verwirklichen: etwas aus unserem Leben machen, etwas erreichen und nicht auf die Hilfe Dritter angewiesen sein. Es ist sicher für alle angenehmer, wenn wir selber über unser Leben entscheiden können, ohne jemandem in einem Büro, sei auch noch so wohlgesinnt uns gegenüber, Rechenschaft über unser Tun zu geben.
Mehrfachproblematiken
Nur ist es in manchen Situationen leider so, dass ein grosser Teil der KlientInnen der Sozialhilfe von Mehrfachproblematiken betroffen sind, die ihre schnelle Ablösung vom Sozialhilfesystem verhindert. Denn gesundheitliche Probleme, aber auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt erschweren es ihnen, den Forderungen der Sozialhilfe nachzukommen.
«Sind die Kinder Schuld daran, dass die Qualifikationen ihrer Eltern auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt werden? Haben diese Kinder kein Anrecht darauf, am Sozialleben ihrer KollegInnen teilzunehmen?»
Sollen sie dann auch dafür bestraft werden? Mit Kürzungen des sowie so knapp ausgerechneten Sozialhilfebudgets? Natürlich sind die Unterstützungsgelder Steuergelder, und es muss auf individueller Ebene genau geprüft werden, wie die vorhandenen finanziellen Mittel eingesetzt werden, damit dem Missbrauch vorgebeugt wird. Ich denke, die entsprechenden Kontrollmechanismen sind vorhanden und sie werden professionell eingesetzt. Falls kein Missbrauch vorliegt (d.h. in der überwiegenden Mehrheit der Fälle): Wieso sollten zum Beispiel Leistungen an Kindern gekürzt werden, deren Eltern arbeiten und ihr Möglichstes tun, ihre finanzielle Lage zu verbessern? Sind die Kinder Schuld daran, dass die Qualifikationen ihrer Eltern auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt werden? Haben diese Kinder kein Anrecht darauf, am Sozialleben ihrer KollegInnen teilzunehmen? Ein kleiner Teil des Sozialhilfebudgets ist nämlich dafür gedacht, die Teilnahme der Betroffenen am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, was auch richtig ist und zum sozialen Frieden in der Gesellschaft beiträgt. Jedoch ist dieser Anteil minimal. Ich habe selber Kinder, und ich weiss aus eigener Erfahrung, dass auch bescheidene Familien-Unternehmungen schnell ins Geld gehen können.
Welches Menschenbild?
So frage ich mich: Was für ein Menschenbild soll dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft zugrunde liegen? Wollen wir uns immer wieder auf die Renitenz einer Minderheit von Klienten in der Sozialhilfe konzentrieren und aufgrund dieser Fälle den Sozialhilfediskurs negativ führen? Angesichts der zunehmenden Anwendung von künstlicher Intelligenz in immer mehr Bereichen unseres Alltags muss in den nächsten Jahren der Arbeitsmarkt fast neu strukturiert werden. Lebenslanges Learning ist schon jetzt eine Tatsache – und es wird die Realität der Zukunft sein. Was ist aber mit den Menschen, die nicht über die entsprechenden physischen und psychischen Voraussetzungen verfügen, um mit diesem Prozess Schritt zu halten? Werden wir sie als „unbrauchbar“ deklarieren und sie dafür noch finanziell bestrafen, dass sie keinen Fuss in der modernen Welt fassen können?
«Wollen wir uns immer wieder auf die Renitenz einer Minderheit von Klienten in der Sozialhilfe konzentrieren und aufgrund dieser Fälle den Sozialhilfediskurs negativ führen?»
Ich würde mir eher wünschen, dass wir genauer zur Situation dieser Menschen (der KlientInnen der Sozialhilfe) schauen und uns überlegen, was denjenigen, die nicht gesund und jung sind (denn diese können sich in der Regel am schnellsten von der Sozialhilfe ablösen) helfen könnte, würdevoll in unserer Gesellschaft zu leben. Ein griechisches Sprichwort sagt, dass der Anfang die Hälfte vom Ganzen ausmacht. In diesem Sinn bin ich überzeugt, dass den auf Sozialhilfe Angewiesenen viel mehr geholfen ist, wenn sie von Anfang an auch finanziell eine möglichst grosse Unterstützung bekommen, um in ihre vorhandenen Ressourcen zu investieren und sie optimal und kongruent zu den Erfordernissen unserer Zeit zu entwickeln. Natürlich wäre auch eine Diskussion auf politischer Ebene nötig, um herauszufinden, wie in der heutigen Zeit des raschen Wandels anständig bezahlte Arbeitsbereiche für die Schwachen entstehen können.